Bitte einsteigen und anschnallen. Wir fliegen nicht mit der Lufthansa ins Silicon Valley. Wir reisen mit modernster Teleportationstechnik durch die Zeit. Der Countdown ihrer Zeitreise beginnt jetzt!

Heute ist der 01. Juli 2021 und wir reisen nun gemeinsam exakt 23.377 Tage zurück ins Jahr 1957. Unsere Reise wird nur wenige Sekunden dauern. Ankunft in Schleswig Holstein am 01. Juli 1957. Hier herrscht Partystimmung. Nach 114 Tagen Streik haben die Metaller gemeinsam mit der IG Metall die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall für Arbeiter erkämpft. Was für ein Triumph! 

Ihren kranken Angestellten mussten die Arbeitgeber schon seit 1861 sechs Wochen lang das Gehalt weiterzahlen. Das Arbeiter-Krankheitsgesetz ist einer der großen Erfolge der Gewerkschaften und musste seither immer wieder gegen Angriffe verteidigt werden. So wurde unter Kanzler Helmut Kohl 1996 das Gesetz geändert und Kranke bekamen nicht mehr 100 Prozent ihres Nettolohns weiter, sondern nur noch 80 Prozent. Als die rotgrüne Regierung 1998 das Kabinett aus Union und FDP ablöste, wurde die Gesetzesänderung wieder gekippt. 

Seitdem gilt: voller Lohn bei Krankheit.

Viele von uns kennen es gar nicht anders und so werden die einst so hart erkämpften Errungenschaften über die Zeit zur Normalität und schon bald zur Selbstverständlichkeit.  Höchste Zeit sich das bewusst zu machen. Ohne existenzielle Geldsorgen hat man bessere Chancen wieder gesund zu werden. Kaum ein Bekannten- und Freundeskreis ohne Covid-19-Erkrankte, die teilweise nur schwer wieder auf die Beine kommen. Freunde und KollegInnen die an Krebs erkranken, lange und hart um ihre Genesung ringen müssen.

Danke für 114 Tage Streik!

Betriebliche Mitbestimmung, Fünf-Tage-Woche, 40-Stunden-Woche, bezahlter Jahresurlaub und Urlaubsgeld wurden zu Selbstverständlichkeiten in Deutschland. Doch wovon andere Menschen auf diesem Planeten kaum zu träumen wagen, wurde auch uns nicht für die Ewigkeit als Grundrecht verbrieft. Allerdings kommt die Gefahr heute nicht mehr in Gestalt eines dickbäuchigen und Zigarre paffenden Großkapitalisten im Frack daher. Heute sind es smarte Typen in Lederjacke, die uns Seemannsgarn aus dem Silicon Valley und anderen Hightech-Regionen der USA in Form von Keynotes verabreichen. Sie nennen sich Rebellen der Arbeit. Englisch klingt das cooler. Manchmal nennen sie sich halb Englisch, halb Deutsch „Business Rebell“ und raten uns:

„disrupt yourself“

Ihnen geht es wie einst den Seeleuten auf monatelanger, langweilig-monotoner Fahrt über die Ozeane. Um in fremden Häfen oder zu Hause von großen Heldentaten und unglaublichen Abenteuern berichten zu können, erfanden sie schlicht und ergreifend Seemannsgarn. Wer selbst noch nie eine Firma oder eine Vertriebsmannschaft aufgebaut und über viele Jahre erfolgreich durch gute und schlechte Zeiten geführt hat, braucht Stoff für seine Keynotes und Bücher. Erst recht, wenn man angeblich als hellsehendes Management-Orakel die Zukunft unserer Wirtschaft vorhersehen kann. Einst berichteten Reisende wundersam-fantastische Geschichten aus dem Orient. Doch damit lässt sich heute nicht mehr punkten. 

Heute müssen es unglaubliche Storys aus dem kalifornischen Wundertal oder aus Seattle sein. „So geht Führung im 21. Jahrhundert“ oder „Erfolg durch Disruption & Digitalisierung“. Gerne auch „Das ist Mitarbeiterbindung im Zeitalter der Digitalisierung“. Wer es gern martialisch mag: „Winning the war for talents“. Es geht nicht kleiner, wenn man brandneues Seemannsgarn direkt aus dem Silicon Valley im Gepäck hat und per Keynote von der digitalen Kanzel verkündet.

Im Silicon Valley muss es „Big, Bigger, Biggest“ sein.

Da ist keine Peinlichkeit zu peinlich, um uns zurückgebliebenen Eingeborenen der alten Welt, zu erzählen wo im Silicon Valley der Hammer hängt. Es ist von den sagenumwobenen Google-Bussen die Rede, in denen die Suchmaschinen-MitarbeiterInnen selbst noch den Arbeitsweg bei kostenfreiem W-LAN produktiv sein können. In der DDR nannte man das unspektakulär „Werksverkehr“ und in den Bussen vermisste niemand W-LAN, weil entweder gepennt oder miteinander gescherzt wurde. 2014 verkündete der smarte und abenteuerlustige, britische Vorzeigekapitalist Richard Branson, dass er die Urlaubsanträge abschaffen werde. Erst ausgewählte, später alle Angestellten bei Virgin könnten Urlaub nehmen soviel sie mögen. Wann auch immer. Kleiner Mini-Haken: die Arbeit darf nicht unerledigt bleiben. 

Auf seinem Blog schrieb er damals: “Wir sollten uns darauf konzentrieren, welches Pensum die Leute schaffen, und nicht darauf, wie viele Stunden oder Tage sie im Büro absitzen“. Man kann das auch ganz böse so übersetzen: Mal sehen wieviele Aufgaben wir unseren Leuten aufdrücken können, wenn die nicht mehr auf Arbeits- und Urlaubszeit achten. Die MitarbeiterInnen sitzen ja ohnehin ihre Zeit unproduktiv im Büro ab, also konzentrieren wir uns auf das Pensum, nicht auf eine Fünf-Tage-Woche mit 40 Arbeitsstunden. Wenn der Mitarbeiter für die ihm übertragenen Aufgaben länger braucht und auch noch das Wochenende dranhängen muss, ist das doch sein Problem. 

Wer schneller ist, hat früher frei!

Eine geniale Idee, um die Selbstausbeutung karrieregläubiger MitarbeiterInnen bis weit über die Grenzen der gesunden Leistungsbereitschaft hinaus zu treiben. Was bildet sich dieser übergeschnappte Brite eigentlich ein? „Selbstausbeutung“ wurde im Silicon Valley längst zum Patent angemeldet. Bransons Urlaubs-Coup wurde dort bereits x-fach kopiert und verfeinert. Beim IT-Dienstleister Evernote gilt die “Urlaub ohne Limit-Regelung“. Die Folge: Manche Mitarbeiter haben seit Jahren keinen Urlaub mehr gemacht. Netflix-Chef Reed Hastings ist ein ganz besonderer Star im Silicon Valley und so lässt er er sich auch gerne von ihm ergebenen Journalisten und Arbeitsrebellen feiern. Wenn man einmal die vielen „Großartig“, welche Hastings im Bezug auf seine Firma und seinen persönlichen Managementstil in jedem zweiten Satz einbaut weglässt, dann muss man nur drei Aussagen übereinanderlegen:

  1. Netflix macht mehr Umsatz pro Mitarbeiter als Apple oder Microsoft.
  2. Bei Netflix dürfen MitarbeiterInnen unbegrenzt Urlaub nehmen.
  3. Netflix zahlt „Rock-Star-Gehälter“.

Wer die rosarote „New-Work-Brille“ trägt und mit den unglaublichen Märchen aus dem kalifornischen Wundertal seinen ganz persönlichen Schnitt macht, wird das als gigantische Produktivitätssteigerung jedes einzelnen Mitarbeiters interpretieren. Die sind so motiviert, dass deren Tag mittlerweile 25 Stunden hat.

Silicon Valley bei Licht betrachtet

Ohne rosarote Brille mit normalem Realitätssinn ausgestattet sieht das anders aus: Die MitarbeiterInnen arbeiten an der Belastungsgrenze und nehmen selten oder nie Urlaub. Dem „Economist“ zufolge macht Netflix 2,6 Millionen US-Dollar Umsatz pro Mitarbeiter in einem Geschäftsjahr. Davon ein für US-amerikanische Verhältnisse gutes Gehalt zu zahlen, ist beim Grad dieser Selbstausbeutung kein Problem. Das hat außerdem den Vorteil, dass Druck und Angst, diesen gut bezahlten Job zu verlieren, enorm steigen. Die unromantische Praxis im New-Work-Kindergarten hört sich dann zum Beispiel im Führungsgespräch von Chef zu MitarbeiterIn so an:

„So lange Sie unsere großzügige und freiwillige Urlaubsregelung so umfangreich in Anspruch nehmen, können wir Sie für den nächsten Karriereschritt nicht berücksichtigen.“ Wer also „Urlaub ohne Limit“ für bare Münze nahm, wird sich sehr schnell umstellen. Wobei solche Gespräche gar nicht so oft stattfinden müssen, denn der Vergleich der Angestellten und der Wettbewerb um den nächsten Karriereschritt untereinander, regelt vieles ganz automatisch.

Hastings Rhetorik ist in vielerlei Hinsicht bemerkenswert.

Als er 2001 ein Drittel der MitarbeiterInnen entließ bezeichnete er das als „Erhöhung der Talentdichte“. Die Entlassenen wurden als „mittelmäßig bis schlechte MitarbeiterInnen“ bezeichnet. Ja wer hat die denn eingestellt? Das „Rock-Star-Gehalt“ wird kombiniert mit einer genial verpackten Abschaffung fester Urlaubsregelungen. Man darf ja soviel Urlaub nehmen, wie man gerne mag. Vorausgesetzt die Arbeit bleibt nicht liegen. Wenn aber nur dann keine Arbeit liegen bleibt, wenn ohne Urlaub und Rücksicht auf Arbeitszeiten durchgearbeitet wird, dann ist das die Abschaffung der Urlaubsansprüche durch die kalte Küche. In Kombination mit der nächsten denkbaren „Talenteverdichtung“ ist allen Beteiligten klar: Die Schnellen fressen die Langsamen. Sozialdarwinismus in seiner reinsten Form.

Bezos, Zuckerberg, Hastings und Co. haben den Kapitalismus modifiziert.

Von der Fremdausbeutung zur Selbstausbeutung. Das machen sie einerseits mit banalen und andererseits mit raffiniert durch kalkulierten „Geschenken“ an die Belegschaft. Aus der Gratis Pizza-Flat für MitarbeiterInnen wurde mittlerweile Show-Cooking im stylischen Creativ Area und man isst gemeinsam Teller an Teller mit dem CEO vom gleichen Wok-Gemüse, welches gerade frisch vom Sterne Koch zubereitet wurde. Getränke aller Art sind selbstredend kostenfrei. Es gibt ein Fitnessstudio und selbst fürs Feierabendbier muss man die Firma nicht mehr verlassen. Das Notebook bleibt dabei ständiger Begleiter.

Arbeitet man im Büro, schläft man im Schlafsack unterm Schreibtisch, im Homeoffice schafft man tief in der Nacht vielleicht sogar noch den Weg ins Bett. Das zieht man durch bis das Pensum erreicht und alle Aufgabe erledigt wurden. Das kann gerne mal ein paar Wochen so gehen. Dafür geht es dann mit den Kollegen eine Woche zur Party an den Strand. Die Eröffnung und Nutzung eines Facebook-, WhatsApp-, oder Instagram-Accounts kostet kein Geld, denn man zahlt mit seinen Daten und was noch viel schlimmer ist, mit seiner Lebenszeit. Dieses Prinzip gilt auch für die Angestellten.

Zeit um sich einen echten Freundeskreis außerhalb der Firma aufzubauen bleibt den vielen, aus aller Welt zu gereisten MitarbeiterInnen nicht und es scheint auch gar nicht nötig zu sein, denn Fitnessstudio, Kickertisch und Bierzapfhahn stehen ja in der Firma rund um die Uhr zur Verfügung. Auf diese Weise ersetzt die Firma eine Familie und die Kollegen kompensieren fehlende Freunde.

Optimale Rahmenbedingungen zur störungsfreien Selbstausbeutung.

Damit man im „War for talents“ auch weiterhin die Nase vorn hat und High Potentials aus aller Welt magisch anzieht, braucht es „Missionare“. So verkaufen uns die rebellischen Verkünder der „Silicon-Valley-Heilslehre“ weitere grandiose Errungenschaften aus dem digitalen Frühkapitalismus in ihren Büchern und Keynotes. Auf YouTube finden sich zahlreiche, an Peinlichkeit kaum zu übertreffende, Filme von deutschen Fernsehteams. Diese naive Werbespots unterstützen wirkungsvoll die Rekrutierung neuer MitarbeiterInnen aus der alten Welt.

So geht der deutsche Einwanderer Ulli aus Westfalen gleich zu Beginn seines Arbeitstages an die Spielekonsole um gleich danach mit Lego-Steinen weiter zu spielen. So bringt er angeblich seine Kreativität in Schwung. Emma P. aus der Schweiz zeigt stolz ihre Mietwohnung in San Francisco. Von dieser pendelt sie täglich im Reisebus der Firma Evernote 180 Minuten ins digitale Märchental und zurück. Die 50 Quadratmeter Mietwohnung kostet im Monat 3200 Dollar. Genauere Details erfahren wir auch in diesem Filmchen nicht. Auf welche Arbeitszeit kommt Patrick S. monatlich? Was bleibt Laura M. von ihrem Gehalt übrig, wenn sie ihre Miete gezahlt hat? Ach stimmt ja, Sie braucht ja kaum noch Geld, denn Getränke, Fitnessstudio und Unterhaltung gibts in der Firma gratis. Private Krankenversicherungen, Altersvorsorge und Sparen sind völlig überbewertet. Google & Co. sei Dank.

Sind all die Geschenke aus dem Silicon Valley noch zu toppen?

Klare Antwort: JA! Bei Tony Hsieh von Zappos in Henderson Nevada darf man, wenn gewünscht, im Pyjama zur Arbeit erscheinen. Im „War for talents“ scheint das heute ein echter Wettbewerbsvorteil in der entscheidenden Schlacht zu sein. Jetzt mal ehrlich, haben Sie nicht schon immer davon geträumt im Schlafanzug oder Nachthemd ins Büro zu gehen? 

Diesen Artikel habe ich auf meinem MacBook Pro geschrieben, als Hotspot nutze ich dabei oft mein iPhone und gesichert wird alles in einer Time Capsule. Gesucht und gefunden habe ich viele Informationen über Startpage und mein Browser ist Brave. Ich empfinde größten Respekt für die Leistungen von Firmengründern, erfolgreichen Managern und motivierten Mitarbeitern, egal wo sie auf unserem blauen Planeten aktiv sind.

Das gilt nicht für die unkritische Journalisten, die sich blenden lassen und mit ihren einseitigen Dokumentationen vor allem junge Menschen mehr als schlecht und alles andere als neutral informieren. Das Gegenteil von Respekt gilt den Seemannsgarn-Speakern und Buchautoren, denn sie erwecken den Eindruck, dass wir in Deutschland stehen geblieben und längst abgehängt sind. Um ihre Thesen zu allgemein gültigen Wahrheiten umzudeuten, verklären sie einerseits alles was aus dem Silicon Valley kommt und verzerren in populistischer Weise, wie bisher in deutschen Unternehmen geführt und gearbeitet wurde.

Rückwärtsgewandt und abgehängt?

Ich bin seit über 30 Jahren in Deutschland unterwegs und in meinen Projekten in unterschiedlichsten Branchen und Unternehmen im Einsatz. Dabei habe ich unterschiedlichste Unternehmenskulturen und Führungsstile erlebt. So unmenschlich, rückwärtsgewandt und zurückgeblieben wie das in Keynotes, YouTube Videos und manchen Büchern dargestellt wird, hab ich es nie erlebt.

Wenn ein Exzentriker, emotionsfreier Perfektionist oder Choleriker führt, dann ist das völlig unabhängig vom Ort, wo er dies tut. Das ist auch in den USA kein Zuckerschlecken. Wer es denn wahrhaben will kann mit einem Blick in die Biografien der Herren Jobs, Bezos oder Musk auch die dunkle Seite dieser grandiosen Unternehmerpersönlichkeiten erkennen.

Genie oder Wahnsinn?

Wenn ich mich zwischen Gratis Pizza, Kickertisch, „Urlaub ohne Limit“ in den Vereinigten Staaten und hart erkämpften Arbeitnehmerrechten in Deutschland entscheiden müsste, wäre meine Wahl sehr leicht zu treffen. Ein Leben ohne Familie, Kinder und Freunde halte ich nicht für erstrebenswert. Es ist nicht die Aufgabe eines Unternehmens Familie und Freunde zu ersetzen. Man kann diese sogenannten Annehmlichkeiten auch als Einmischung ins Leben der Menschen interpretieren. Alles dreht sich nur noch um die Firma und in der Firma. 

„War for talents“ ist auch nicht die ganze Wahrheit. Es ist eher ein Krieg um die Leistungsträger, die bereit sind ihr ganzes Leben den Interessen der Firma unterzuordnen, denn diese intrinsisch motivierten Menschen neigen sehr stark zur Selbstausbeutung. Die arbeiten im Homeoffice mehr als im Büro. Sollten Sie überhaupt Urlaub nehmen, sind sie immer erreichbar und haben ihr Notebook stets griffbereit. Im Silicon Valley ist man willkommen, wenn man leben um zu arbeiten will. Doch das erfährt man in den, als Dokumentation getarnten Werbefilmen und in Keynotes nicht.

Ich bin selbständiger Unternehmer und natürlich in keiner Gewerkschaft organisiert. Mitglied in einer Partei bin ich ebensowenig. Ich lasse mir nicht von Arbeitsrebellen und Managementorakeln das Hirn waschen. Ich wünsche mir, dass wir in Europa innovativ, erfindungsreich, freundschaftlich und menschlich unsere Zukunft gestalten.

Dabei dürfen wir nie vergessen wie gut es uns geht und warum das so ist.

 

Kontakt zum Kontaktexperten:
Jetzt Kontakt aufnehmen